Biennale
Gherdëina III


Konzept

Kunst im öffentlichen Interesse - Zeitgenössische Skulpturen in der Fußgängerzone von St. Ulrich 


„Die Skulptur begehrt nicht, unabhängig vom Betrachter zu existieren, als wäre sie von Anfang an gegeben, fertig und zum Mitnehmen bereit  (…). Die Skulptur wartet auf die Intuition, die Subjektivität und die Willkür des schöpferischen Betrachters, der eingeladen ist, ihre Vakanz auszufüllen, als sei zu glauben, alles hänge von uns ab, wir seien alles und sie sei nichts. Still, nicht autoritär, ohne anekdotisches Geschwätz 

und ohne Aufforderung, ist dieses Werk dem betrachtenden Subjekt offen, das es offenbaren wird. Als aufgeschobenes und latentes Wort ist es darauf angewiesen, dass man es ausspreche.“

Rémy Zaugg, Die List der Unschuld. 
Das Wahrnehmen einer Skulptur, 1982


Ein Plädoyer für Kunst im öffentlichen Raum Bereits zum dritten Mal findet heuer die Biennale Gherdëina in der Fußgängerzone von St. Ulrich statt. Seit 2008 – damals als Rahmenveranstaltung zur „Manifesta“ – setzt sich die Biennale dem ambivalenten Verhältnis von Kunst und Öffentlichkeit aus. Alle zwei Jahre stellt sie Werke von fünf renommierten Südtiroler Künstlerinnen und Künstlern vor, um zeitgenössische Kunst einer breiteren Bevölkerungsgruppe vertraut zu machen und Einwohner wie Gäste mit künstlerischen Fragestellungen zu konfrontieren.

Den öffentlichen Raum für ein zeitgenössisches Kunstprojekt zu wählen ist immer wieder eine besondere Herausforderung. Viele Menschen kommen hier das erste Mal mit Gegenwartskunst in Kontakt. Die skulpturalen Arbeiten wenden sich also nicht in erster Linie an ein Publikum, das mit einem zeitgenössischen Kunstdiskurs vertraut ist. Es ist unbestritten ein großer Unterschied, ob Kunst im Museum oder im öffentlichen Raum gezeigt wird. Ein Museum für Gegenwartskunst ist ein klar definierter, hermetisch ausgerichteter Raum, der bewusst zum Betrachten von Kunst aufgesucht wird. Der kunstinteressierte Betrachter weiß, was ihn erwartet. Er hat die Möglichkeit, sich auf die Ausstellungen vorzubereiten, er kann vor Ort ein Vermittlungsprogramm besuchen oder sich nach dem Besuch anhand eines Ausstellungskataloges in die Materie vertiefen. Wenn hingegen im öffentlichen Raum zeitgenössische Kunstwerke ausgestellt werden, tauchen diese in der alltäglichen Lebenswelt der Menschen auf. Sie stehen in einem ungewohnten, nicht als Kunstraum definierten Umfeld, und eine viel größere Bevölkerungsgruppe kommt mit ihnen – oft auch ungewollt – in Kontakt. Das kann bisweilen zu Konflikten führen, häufig auch deshalb, da die Neugierde und das Verständnis für Gegenwartskunst fehlen, die Kunst als Belästigung oder gar als Provokation aufgefasst wird. Anscheinend wird hier ein ganz besonderer Nerv getroffen, was bisweilen zu sehr emotionalen Reaktionen führen kann. Unter dieser Prämisse zeitgenössische Kunst in der Fußgängerzone von St.  Ulrich zu zeigen, ist ein (wage-)mutiger Schritt. 

Nun kann provokant nach der Sinnhaftigkeit eines solchen Unterfangens gefragt werden: Wieso reicht es nicht aus, dass jene, die sich für Gegenwartskunst interessieren, diese im Museum betrachten? Wieso müssen Einheimische und Touristen im öffentlichen Raum mit rätselhaften oder auch aufwühlenden zeitgenössischen Kunstwerken konfrontiert werden?  Die Einfachheit der Antwort mag verwundern: Kunst gehört zum Menschsein. Und damit ist nicht nur die Kunstgeschichte gemeint – also Werke vergangener Epochen – sondern auch und ganz besonders die zeitgenössische Kunst. Sie ist nicht ein verrücktes Luxusgut einer intellektuellen Elite. Im Gegenteil. Es ist ein zentraler Wesenszug des Menschen, sich kreativ auszudrücken und schöpferisch tätig zu sein, sich selbst und die Welt, in der er lebt, über sinnliche visuelle Darstellungsmittel zu begreifen oder auch in Frage zu stellen. Die Beschäftigung mit Kunst als Künstler, aber natürlich auch die Erfahrung als Kunstbetrachter, hat nicht in einer geschützten Werkstätte zu passieren, sie soll auch nicht nur einigen wenigen Menschen vorbehalten sein. Museen sind wichtige und wunderbare Orte der Kunst (leider allerdings oft zu elitär ausgerichtet), aber daneben ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Kunst immer wieder diesen orgegebenen institutionalisierten Rahmen verlässt und sich zu den Menschen hinaus begibt – etwa in den öffentlichen Raum. Das kann bei manchen Betrachtern dann Neugierde, vielleicht auch Interesse wecken, ein Kunstmuseum zu besuchen, bei anderen aber, wie erwähnt, auch verstörende Irritationen auslösen. Dies zeigte sich auch heuer bereits rund um die Eröffnung der III. Biennale Gherdëina: Neben zahl-reichen begeisterten Reaktionen gab es auch sehr kritische Stimmen, die zum Teil äußerst offensiv zu Gehör gebracht wurden. Um nicht missverstanden zu werden: Wenn Kunst zu Diskussionen führt, über sie leidenschaftlich debattiert wird, ist das nur zu begrüßen. Kunst muss manchmal auch aufwühlen, provozieren und weh tun – etwa um unangenehme Themen unserer Zeit anzusprechen und zu hinterfragen. Nicht alles muss dabei gefallen oder als gut empfunden wer-den. Es ist das gute Recht zu sagen: „Das gefällt mir nicht!“ Wenn aber subjektive Gefühle, Ablehnung oder Kränkung der persönlichen Befindlichkeit zum objektiven Maßstab erhoben werden, und die Entfernung oder gar das Verbot von „derartiger Kunst“ gefordert wird (oder den Werken der Kunstcharakter überhaupt abgesprochen wird), dann bewegt sich die Diskussion auf gefährlichem Terrain. In diesem Zusammenhang richtet sich auch eine wichtige Frage an die Politik: Inwieweit wird zeitgenössische Kunst zugelassen und gefördert – auch dann, wenn sie sich kritisch äußert, aneckt und unangenehme Fragen stellt? Es sagt viel über die Offenheit und auch die Demokratie einer Gesellschaft aus, wie sie mit ihren zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern umgeht. Wünschens- und erstrebenswert ist somit eine offene und ehrliche Auseinandersetzung, ein „sich dem Kunstwerk aussetzen“, und nicht ein voreiliges Verurteilen – auch auf das Risiko hin, sich selbst und seine eigene Meinung hinterfragen zu müssen. Schön ist, dass in St. Ulrich nach den Kritiken und Unmutsbekundungen bei den letzten zwei Biennalen (die es neben den vielen positiven Reaktionen auch gegeben hat), der Mut gefunden wurde, auch 2012 wieder eine Ausstellung im öffentlichen Raum zu wagen.

Kunst im öffentlichen Raum hat es schon immer gegeben. Doch entgegen der aus der Vergangenheit bekannten, bisweilen bis in die Gegenwart verlängerten Muster – nämlich vor allem Monumente, Denkmäler oder Büsten aller Art – setzen sich Künstlerinnen und Künstler heute mit neuen Themenfeldern auseinander. Diese sind durch ein hohes Maß an Flexibilität ausgezeichnet, durch ein Aufgeben des elitären Kunstbegriffs ebenso wie durch die Einsicht, dass es nicht genügt, Skulpturen aus dem Atelier in den Freiraum zu stellen. Heute ist der öffentliche Außenraum von Städten und auch Dörfern oft überdeterminiert und „übergestaltet“. Das allgegenwärtige „Kauf-mich“ und „Schau-mich-an“ der Innenstädte kann dazu führen, dass sich heutige Künstlerinnen und Künstler mit kritischer Distanz der Situation und dem Anspruch von Kunst im Außenraum nähern, gleichzeitig aber auch Wege finden müssen, überhaupt wahrgenommen zu werden. Wenn ich in der Überschrift die gesellschaftliche Relevanz von Kunst im öffentlichen Raum als „Kunst im öffentlichen Interesse“ bezeichnet habe, so ist dies eine von Arlene Raven1 entlehnte Aufforderung, die eine seriöse Basis für einen ernsthaften Umgang mit Kunst im nichtinstitutionellen Raum bilden kann. Die Wahrnehmung von Kunst im öffentlichen Raum ist vielen Einflüssen und Interessen ausgesetzt, sei es durch Politik, Medien oder Tourismustreibenden. Hier ist es unabdingbar, einen Weg zu finden, der Kunst ihre Autonomie und Freiheit zuzugestehen und vordefinierte Meinungsäußerungen zu vermeiden. Von Veranstalter- und Kuratorenseite sind in diesem Zusammenhang eine hohe Sensibilität und ein feines Gespür in der Herangehensweise und Vermittlung unabdingbar. Und auch die Künstlerinnen und Künstler müssen sich des besonderen Ortes bewusst sein. Man soll die Besucherinnen und Besucher mit den Werken nicht überfordern, ihnen kunstvermittlerisch zur Seite stehen, verständliche Informationen bereithalten, Führungen und Diskussionsveranstaltungen anbieten. 

Ich bin überzeugt, die in der III. Biennale Gherdëina zu sehen-den künstlerischen Arbeiten geben den Besucherinnen und Besuchern der Fußgängerzone die Möglichkeit, auf eine anregen-de wie vielschichtige Art und Weise, sich der Gegenwartskunst anzunähern. Die Kunstproduktion geschah vor Ort, alle Werke sind eigens für die Biennale entstanden. So konnte unmittelbar auf den dörflichen Raum reagiert werden, es zu einem spannungsreichen Dialog mit den Menschen und dem Umraum kommen. Die Fußgängerzone ist ein wunderbarer Ort zum Flanieren, ein Ort der Kommunikation und natürlich auch des Konsums. Die zeitgenössischen Kunstwerke sind in diesem Umfeld keine Störung des geschäftigen und gesellschaftlichen Treibens, und sie sollen die Passanten auch nicht in ihren Gefühlen verletzen. Wohl aber können sie vom aufmerksamen Betrachter als Bereicherung empfunden werden, ihn zum Nachdenken anregen, ihn mit Themen unserer Gesellschaft konfrontieren und durch Kontextverschiebungen neue Blickwinkel auf hinlänglich Bekanntes oder auch längst Etabliertes ermöglichen. Kunst kann aber auch sinnlich und visuell begeistern, den Betrachter zum Schmunzeln bringen oder ihn auch berühren. Das alles kann geschehen, wenn er, wenn sie, wenn wir alle den Mut haben, uns auf die Kunst-werke einzulassen. 

Die Erweiterung des Skulpturenbegriffes „Skulptur ist das, woran du stößt, wenn du zurücktrittst, um ein Gemälde zu betrachten“, hat der Künstler Barnett Newman in den 1950er Jahren einmal ironisch gemeint.2 Newmans Intention, die Gattung der Malerei über jene der Skulptur zu stellen, lässt an jenen Wettstreit der Künste in der Renaissance und im Frühbarock denken, in dem es um die Vorrangstellung innerhalb der bildenden Künste ging, ausgetragen vor allem zwischen der Malerei und Bildhauerei. Der Streit wurde nie eindeutig entschieden und in der heutigen multimedialen Kunstwelt hat er seine Bedeutung verloren. Dennoch hat die Skulptur seit jeher einen besonderen Stellenwert in der bildenden Kunst. Im Unterschied zur Malerei behandelt sie unmittelbar den Körper im Raum und muss von allen Seiten her konzipiert werden. Der Gattungsbegriff Skulptur bezeichnet ein dreidimensionales, körperbildendes Werk, gleichbedeutend mit ihr sind die Begriffe Bildhauerei und Plastik im weiteren Sinne. Die spezifischen Merkmale sind also Dreidimensionalität, Positionierung im Raum und haptische Erfahrbarkeit, doch im 20. Jahrhundert wird der traditionelle Skulpturenbegriff von künstlerischer Seite aufgebrochen und entscheidend erweitert.3  


Die Entwicklung der Skulptur ist im vergangenen Jahrhundert vor allem durch ihre Ablösung vom menschlichen Körper gekennzeichnet.4 War die Skulptur Jahrhunderte lang Abbild der Anatomie des Menschen, so wendet sie sich am Beginn des 20. Jahrhunderts vom Prinzip des Figuralen ab. In dieser Zeit beginnt einerseits der Prozess der Abstraktion, eine Vertreibung und Zertrümmerung der Gegenstandwelt in abstrakte Malerei und Skulptur, andererseits ein nie da gewesener Einzug gerade dieser Gegenstandwelt in die Kunst und eine Vergegenständlichung der Skulptur. Man denke hier nur an die sogenannten „Readymades“ (besonders bei Marcel Duchamp): gewöhnliche Objekte und industriell gefertigte Gebrauchsgegenstände wer-den in die Kunst übergeführt und zu Skulpturen erklärt. 

„Es ist die unbekannte Größe, von der ich ausgehen und zu der ich gelangen will.“ Mit diesem Statement über das Material-Experiment erschließt die Künstlerin Eva Hesse 1968 neue Wege in der Skulptur5. Die für die Skulptur zur Verfügung stehenden und benutzten Materialien und Medien erweitern sich in dieser Zeit radikal: Verwendet werden oft unkonventionelle, „kunstfremde“ Materialien, etwa verschiedene Kunststoffe, Industrieprodukte und Gummi, aber auch Alltagsobjekte, wie Kleidung oder gar Spielzeug, finden ihren skulpturalen Gebrauch und machen ganz neue technische Kenntnisse erforderlich. Künstlerinnen und Künstler experimentieren mit unterschiedlichen Material- und Aggregatzuständen (z.B. auch mit Feuer und Wasser), sie beginnen, den traditionellen Skulpturenbegriff um die zeitliche Dimension zu erweitern, sich für das Sichtbarmachen des künstlerischen Prozesses, sowie die dabei wirkenden Energien zu interessieren. Die Aufmerksamkeit von der vollendeten Plastik verschiebt sich auf das, was während des Prozesses passiert oder durch ihn ausgelöst wird, die Form der Skulpturen ist das Ergebnis der Materialeigenschaften und der Ereignisse, denen das Objekt ausgesetzt wurde. Durch den Einfluss von Film und Video entstehen zahlreiche Medienskulpturen. Seit den 1960er Jahren dominieren multimediale Formen der Skulptur wie Performances, Installationen und Environments6 die Entwicklung der Skulptur. Aus Assemblagen und Akkumulationen entwickeln sich große, raumgreifende Installationen, die sich aller Medien bedienen, von der Malerei bis zum Film, vom Text bis zum Objekt. Parallel zu dieser Erweiterung des Kunstbegriffes sind es vor allem auch Fluxus, Happening und insgesamt die Aktionskunst7, welche den Begriff der Skulptur verändern. Anweisungen an das Publikum laden zur Partizipation ein, bisweilen werden erst mit der Konstruktion oder Bedienung der Objekte (durch die Besucherinnen und Besucher) diese zu Kunstwerken. Manche konzeptionelle Ansätze gehen noch weiter: Eine Skulptur kann eine rein sprachliche Äußerung sein, ein Text an der Wand oder eine Anweisung. Sie kann ein Fotodokument sein, eine Installation oder eine Handlung, eine soziale Plastik, ein sozialer Prozess (z.B. bei Joseph Beuys). In jüngerer Zeit spielen Künstler wie Erwin Wurm mit dem Grenzbereich zwischen Skulptur, Aktion und Performance. Alles kann bei Wurm zur Skulptur werden: alltägliche Handlungen, geschriebene, fotografierte oder gezeichnete Anweisungen, selbst ein Ge-danke. Abschließend soll noch ein Künstler erwähnt werden: der Südtiroler Walter Pichler. Der erst vor kurzem verstorbene Ausnahmekünstler stellte sich die Frage: „Wo beginnt die Plastik? Wo hört sie auf?“ Für seine archaischen Holz- oder Metallskulpturen baute er eigene Häuser und Heimstätten – Behausungen mit perfekten Dimensionen und Relationen, damit die Kunstwerke ihren idealen Platz mit den optimalen Lichtbedingungen haben.

Conclusio

Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass das enorme Angebot an Werkstoffen, Formen, Techniken, theoretischen Ansätzen und Konzepten, das unter dem Begriff „Skulptur“ in Erscheinung tritt, darauf hinweist, dass diese Disziplin nicht mehr eine unveränderliche Kunstform mit festgelegten Grenzen und Regeln darstellt. Im Gegenteil, sie ist erfolg-reich, weil sie ihre Bereiche mit unermüdlicher Energie er-weitert. Die in den 1960er und 70er Jahren eingesetzte Erweiterung des Skulpturenbegriffes (durch Joseph Beuys oder Fluxus, aber auch Konzeptkunst, Minimal Art und Arte Povera) schafft grundlegend veränderte, z.T. völlig neue Voraussetzungen und brachte eine vielfältige Öffnung in der Auswahl der Materialien. Damit verbunden ist eine Reflexion über die Grenzen wie auch die künstlerischen Möglichkeiten des autonomen skulpturalen Werkes. Die Skulptur hat sich in den letzten Jahrzehnten vermutlich stärker gewandelt als zu jeder anderen Zeit in ihrer Geschichte. „Sie hat sich gewandelt, weil wir uns gewandelt haben“, schreibt Judith Kollins. „Dem Ideenreichtum und der Komplexität der modernen Welt entsprechen Ideenreichtum und Komplexität der Skulptur von heute.“8

Die Themen und Inhalte der aktuellen Skulptur sind so breit gefächert wie die Kunst selbst: Unsere Welt und der Alltag mit all seinen Dimensionen, die Reflexion über die Grundbedingungen der Kunst und existentielle menschliche Erfahrungen, aber auch die Konditionierung und Veränderung des bespielten Raumes spiegeln sich in den zahlreichen Werken. In letzter Zeit kann man wieder eine stärkere Auseinandersetzung mit der menschlichen Figur als Körper im Raum beobachten. Und neben all den neuen, experimentell eingesetzten Arbeitsmitteln und Ausdrucksformen finden sich auch nach wie vor die „klassischen“ Materialien wie Bronze, Marmor oder Holz – oft jedoch werden sie mit einer überraschenden, nicht konventionellen Thematik verbunden.   

Die Erweiterung des Skulpturenbegriffes erschließt dem Medium neue Handlungsräume, Repräsentationsformen und zeit-spezifische Ausformungen. „Offensichtlich manifestiert sich hier Skepsis gegenüber einem als hermetisch empfundenen, introvertierten Werkbegriff, den die ausschließlich für (…) den von der Außenwelt getrennten, musealen Ausstellungsraum geschaffenen ‚autonome Skulptur‘ verkörpert“, betont Ute Riese. Deutlich wird immer mehr das Bedürfnis, tradierte Ausstellungs- und Vermarktungsmechanismen aufzubrechen oder neu zu öffnen. So kommen wir zurück zum Thema am Beginn dieses Aufsatzes und zu dem Wunsch nach mehr sozialer Einbindung der Kunstwerke und gesellschaftlicher Intervention mit künstlerischen Mitteln. „Ein neues Rollenverständnis des Künstlers äußert sich sowohl im Einbezug des öffentlichen Raumes, der Auseinandersetzung mit moderner Urbanität (Stadträumen, exponierten Orten, marginalen Nebenschauplätzen), wie eben-so der Inszenierung exemplarischer Kommunikationssituationen und dem Einbezug breiterer Adressatenschichten, die über das spezielle Kunstpublikum hinausgehen.“9

Die Kunstwerke in der Fußgängerzone in St. Ulrich sind im Kontext eines erweiterten Skulpturenbegriffes zu sehen. Skulpturales Arbeiten hat in Gröden eine lange, sehr erfolgreiche Tradition, und es ist begrüßenswert, dass in der Kunstproduktion wie Ausstellungstätigkeit der Schritt Rich-tung Gegenwartskunst gesucht wird. So finden sich seit einigen Jahren neben den ausgezeichneten traditionellen Holzschnitzern auch eine Reihe äußerst interessanter Künstler, die sich in ihren Arbeiten am internationalen Kunstgeschehen orientieren und ihre traditionelle Technik mit zeitgenössischen Themen und Herangehensweisen zu verknüpfen suchen. Die Skulpturenbiennale ermöglicht einen Blick auf Künstler des Tales aber auch von anderswo, ihre Kunstwerke veranschaulichen eindrucksvoll, wie vielfältig und facettenreich (auch in Südtirol) dem Skulpturenbegriff begegnet oder dieser hinterfragt wird: Arnold Mario Dall’O kombiniert spannungsreich ein rohes Lattengerüst mit einem realistisch ausgearbeiteten Holzkopf, Gehard Demetz gewährt mit seinen kindlich wirkenden Bronzefiguren eine psychologische Innenschau, Hubert Kostner erweitert die Skulptur um Gebrauchsgegenstände und den partizipativen Moment, Walter Moroder wählt mit zwei Betonblöcken die klassische Form des Monoliths und Esther Stocker beeinflusst mit einem unvollendet wirkenden, minimalistischen Kubus die Wahrnehmung von Raum und Umraum.  

Einheimischen und Gästen von St. Ulrich bietet sich die Möglichkeit für eine reizvolle künstlerische Entdeckungsreise. „Mir gefällt, dass die III. Biennale Gherdëina im öffentlichen Raum stattfindet und damit ein Geschenk an alle ist“, sagt Esther Stocker. Ich hoffe und wünsche mir, dass viele es ähnlich sehen und die Ausstellung positiv angenommen wird, dass es zu ei-nem lebendigen Dialog und anregenden Austausch kommt. Ein großer Dank an die Künstlerin und die vier Künstler für ihre wunderbaren Arbeiten aber auch für die herzliche und bereichernde Zusammenarbeit. Ich möchte auch allen jenen danken, die die Skulpturenbiennale möglich gemacht haben, besonders der künstlerischen Leiterin der Biennale, Frau Doris Ghetta, denn nur mit Menschen, die so eine große Leidenschaft und ein ehrliches Engagement für zeitgenössische Kunst haben, sind solche Projekte umsetzbar. 


Günther Oberhollenzer

Kurator Essl Museum, Klosterneuburg / Wien


1 Arlene Raven (1944-2006) war eine amerikanische Kunsthistorikerin und Feministin.

2 Barnett Newman, zit. nach: Rosalind E. Krauss, Skulptur im erweiterten Feld (1978), in: Rosalind E. Krauss, Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moder-ne, hg. von Herta Wolf, Dresden 2000, S. 337.

3 Fließend sind in diesem Zusammenhang auch die Grenzen zur Installation. Gemeint ist damit ein dreidimensionales Kunstwerk, bei dem der raumgreifende, ortsgebundene oder situationsbezogene Charakter besonders betont wird.

4 Einige Passagen der folgenden Abhandlung sind an einen sehr informativen Aufsatz von Peter Weibel angelehnt. Für Weibel sind „Skulptur, Objekt, Medieninstallation, Handlung“ die vier großen Metamorphosen der Skulptur im 20. Jahrhundert. Peter Weibel, Die Skulptur im 20. Jahrhundert. Zwischen Abstraktion, Gegenstand und Hand-lung, in: Österreichischer Skulpturenpark Privatstiftung (Hg.), Garten der Kunst. Österreichischer Skulpturenpark, Ostfilden 2006, S. 13-26.

5 Eva Hesse zit. nach: Judith P Fischer, different.ways.2.SCULPTURES, Ausstellungskatalog Künstlerlaus Wien und Klagenfurt 2009, S. 3.

6 Das Environment ist ein aus dem englischen entlehnter Begriff und bezeichnet künstlerische Arbeiten, die sich mit der Beziehung zwischen Objekt und Umgebung auseinan-dersetzen. Dabei kann die Umgebung Teil des Kunstwerkes sein.

7 Fluxus und Happening sind wichtige Formen der Aktionskunst. Fluxus ist eine radikale, experimentelle Kunstbewegung in den 1960er Jahren mit Einflüssen aus dem Dadais-mus. Nach dem Dadaismus ist Fluxus der zweite elementare Angriff auf das Kunstwerk, das im herkömmlichen Sinn negiert wird und als bürgerlicher Fetisch gilt. Was zählt, ist die schöpferische Idee. Fluxus ist eng mit Musik, Aktion und Happening verbunden. Happening ist ein improvisiertes Ereignis direkt vor Publikum.

8 Judith Collins, Skulptur heute, Berlin 2008, S. 6. Es soll hier allerdings auch erwähnt werden, dass die Erweiterung des Skulpturenbegriffes durchaus auch kritisch gesehen werden kann. So prangert etwa Robert Fleck die „Zersplitterung des Skulpturenbegriffes“ an, die es unmöglich machen würde, die Geschichte und Entwicklung der Skulptur im 20. Jahrhundert zusammenfassend darzustellen. Robert Fleck, Die Erinnerung der Skulptur, in: Figur / Skulptur, Ausstellungskatalog Essl Museum, Klosterneuburg / Wien, 2005, S. 22-27, hier S. 25.

9 Ute Rise, Skulptur 2000, Ausstellungskatalog Kunsthalle Wilhelmshaven, Wilhelmshaven 2000, S. 4.